Von Oslo 1955 bis Whistler 2025: Zum 70. Geburtstag der FIL Rodel-WM

Rodeln, WM 1955, Stangenwald, Oslo Museum

Whistler (01.02.2025) Wenn sich die Rodel-Familie in Whistler zu ihrer 53. Weltmeisterschaft trifft, geht es nicht nur um Medaillen. Die diesjährigen Titelkämpfe werden auch eine ideelle historische Geburtstagsparty sein. Denn zur gleichen Zeit, Anfang Februar, fanden vor genau 70 Jahren in Oslo die ersten FIL-Weltmeisterschaften statt.

Man glaubt, nicht richtig zu hören: es war in der Tat am legendären Holmenkollen - Mekka der Skispringer und Langläufer - schlug am 5. und 6. Februar 1955 die Geburtsstunde der Rodel-WM!

Eigentlich waren in Norwegens Hauptstadt die 13. Europameisterschaften angesetzt; doch des Gastgebers schon Ende des 19.Jahrhundert gegründeter Rodelverband, „Norges Akeforeningen“ wurde damals 60 Jahre alt und bat gleichermaßen verspätet wie kühn um die Ehre, daraus eine Weltmeisterschaft zu machen.

Und tatsächlich, die Section de Luge der damaligen FIBT (Fédération Internationale de Bobsleigh et Tobagganing) mit ihrem visionären Lenker Bert Isatitsch stimmte dieser historischen „Geburt“ zu, 1955.

Zwei Jahre später, 1957, lösten sich die Rodler vom Welt-Dachverband, wurden selbstständig und der österreichische Schuldirektor Isatitsch der erste Präsident der FIL, für einmalig lange 36 Jahre. Bis ihn nach seinem plötzlichen Tod, 1994, kurz vor Lillehammer, „Kronprinz“ Josef Fendt beerbte.

Es waren dies - die Ära Isatitsch und Fendt - zwei Perioden und zwei Persönlichkeiten, die das Kunstbahnrodeln 1964 olympisch machten und weltweit verbreiteten; dazu wirtschaftlich stabil und populär in seinem medialen Bekanntheitsgrad.

Salvvesen, Tony  in Aktion 1955 mit Stange Autogramm

Dieses verpflichtende Vermächtnis hält seit 2020 nun Einars Fogelis weiterhin auf Erfolgskurs.

Wer weiß, ob am 70. Geburtstag der Rodel-WM, in Whistler Zeit ist, um ein Glas Champagner „auf die Erinnerung“ zu erheben. Der Autor dieses Artikels wird es tun, hat er doch seit 1964/65 als Fernsehjournalist engagiert am Rodelsport teilgenommen. Und, er lernte 1994, anlässlich der Olympischen Winterspiele in Lillehammer, sogar noch den ersten Weltmeister von 1955 kennen!

Es klingt unwahrscheinlich, aber es war ein Norweger! Mit diesem Anton „Tony“ Salvesen (24.10. 1927 - 24.07.1994) drehte das Zweite Deutsche Fernsehen in Oslo damals eine kleine Story. Auch am „Tatort 1955“, dem „Korketrekkeren“, der 1500 Meter lange WM-Piste. So genannt, weil ihre 16 weiten und flachen Kurven den Windungen eines Korkenziehers glichen. Sie war eine Naturbahn aus Schnee und Eis. Mit einem Gefälle von 9,4 %. Die Schlüsselstellen mit Holzbrettern gesichert.

30 000 Zuschauer, ist in den Annalen zu lesen, säumten an den zwei Renntagen die Strecke. Darunter auch Norwegens Kronprinz Olav V., der spätere König und Vater des heutigen ebenso sportbegeisterten Regenten Harald V. (87).

Mit Tony Salvesen, der seinen Metallschlitten mit einer vier bis fünf Meter langen Holzstange hinterrücks (!) steuerte - wie damals alle Skandivanier - und damit in den weiten Kurven einen Vorteil hatte, gewann ein absoluter Außenseiter. Er war zwar schon norwegischer Meister geworden; doch international ein absolut „unbeschriebenes Blatt“, das den favorisierten Österreichern just zur ersten WM das Gold wegschnappte.

Interessant, jedoch bitte nicht vergleichen mit der Gegenwart, die Fahrtzeiten: Salvesen siegte nach vier Rennläufen in 8:08,59 Minuten vor Josef Thaler (8:10,53) und Josef Isser (8:15,21).

Die meisten Schlitten damals, sollte noch erwähnt werden, waren überwiegend hölzerne „Gasser“ aus Österreich oder von der Marke Eigenbau. Noch ohne Schalensitze, sondern mit Sitzmatten aus Segeltuch als Unterlage; dazu Handlenkung mit einem Ledergurt. Von Aerodynamik noch keine Spur: man saß auf dem Schlitten, leicht nach hinten gebeugt; machte die Schienen mit Wachs schnell oder erhitzte sie.

Salvesen, Tony WM 1955 beim Wachseln

Die Karriere des Überraschungsweltmeisters von 1955 endete direkt nach den Titelkämpfen. Salvesen war internationaler Schiffsmakler. „Ich musste mich diesem Beruf voll und ganz widmen und hatte mein Büro viele Jahre in New York“ erläuterte der erste Weltmeister im Rodeln beim Interview seinen frühen Ausstieg.

Salvesen, total ein Gentleman, zeigte sich international nur noch ein einziges Mal: 1979 bei der WM am Königssee - als Ehrengast der FIL und Medaillen-Überreicher an die jüngere Generation, zusammen mit den anderen Weltmeistern von 1955, die alle aus Österreich kamen, nämlich Carla Kienzl und dem Doppel Hans Krausner/Joseph Thaler.

Von Letzterem wird in den Geschichtsbüchern die Episode erzählt, dass beim triumphalen WM-Empfang in der heimatlichen Rodel-Hochburg Imst der Bürgermeister ihm zwei Ehrenpräsente zur Wahl stellte: entweder einen riesig großen Silberpokal oder ein Stück Bauland...

Eigentlich keine Frage, das Grundstück zu wählen; doch „Seppl“ Thaler entschied sich, kaum zu glauben, für den Pokal. Seine Begründung: „weil wir in Oslo keinen erhalten haben.“

Der Korketrekkeren „lebt“ übrigens heute noch. Mit seinem Start unweit der Holmenkollen-Bahnstation Frognerseteren und dem Ziel nahe dem Bahnhof Midtstuen, ist das Rodeln auf der alten WM-Strecke ein ideales, beliebtes Familien-Wintervergnügen. Mit eigenem Schlitten oder einem von 300 Leihgeräten beim Verein „Akeforeningen 1905“. An manchen Wochenenden sollen bis zu 5 000 Abfahrten gezählt werden! Eben auch, weil man dank der Holmenkollen-Metro so schnell wieder oben am Start sein kann.

Um den 70. WM-Geburtstag abzurunden, ist es Chronistenpflicht zu sagen, dass von den zwölf Medaillengewinnern damals - acht allein aus Österreich - nur noch zwei leben. Diese letzten Zeitzeugen sind die ewig-jungen Fritz und Marianne Nachmann aus Kreuth am Tegernsee.

1955 noch befreundet, seit 1957 ein Ehepaar, erzählen sie schwärmend vom 70 Jahre zurückliegenden Ereignis, bei dem sie beide die Bronzemedaille gewannen. Fritz (95), der gelernte Schreiner, als Pilot im Doppel mit seinem „Rucksack“ Joseph Strillinger und Marianne (93), damals noch Bauer, die Diplomköchin, bei den Frauen.

Beide Rodler vom RC Rottach-Egern erinnern sich: „Zehn Deutsche waren wir, aus Bayern, dem Schwarzwald und dem Harz; mit Eisenbahn und Schiff mehr als eine Tagesreise unterwegs nach Oslo; wohnten unweit der Bahn in Vierbett-Zimmern im „Frognerseteren Hotell“ und … träumen heute noch vom sensationellen Frühstücksbuffet, das uns verwöhnte, nur kurz nach der kargen Lebensmittelkarten-Zeit im Nachkriegs-Deutschland. Und, es herrschte eine tolle Kameradschaft unter uns etwa 80 Rodlern aus acht Ländern.“

Fritz Nachmann

Während Marianne Nachmann nach dem großen Erfolg ihre Karriere früh beendete, drei Töchter großzog und die Küchenchefin war in Nachmanns 35 Jahre lang gemeinsam betriebenen bayrischen Gasthöfen, setzte Fritz seine Karriere fort.

Mit Partner und Freund Strillinger gewann er 1957 und '58 zwei Weltmeistertitel im Doppel und als Solist 1963 in Imst die Einzel-WM. Als Mitfavorit fuhr er ein Jahr später zu den ersten Olympischen Winterspielen der Rodler nach Innsbruck und stürzte gleich im ersten Lauf. Seine allzu stark erhitzten Bronze-Schienen hatten ihn aus der Spur getragen... 1964 war das Heizen noch erlaubt.

Vier Jahre später, 1968 in Grenoble, holte sich „der alte Fritz“ mit Wolfgang Winkler doch noch seine olympische Medaille, Bronze als 38-Jähriger! Auch dank des vom ihm, dem „Rodel-Professor“, selbst ausgetüftelten Räderschlitten-Sommertrainings auf der Gefällstrecke einer Bergstraße herunter zum Schliersee.

Nach dem finalen Olympia war Fritz Nachmann noch zwölf Jahre lang Sportwart im deutschen Verband (DBSV) und mit Sepp Lenz zusammen Bundestrainer. Im Jahr1980 war dann endgültig Schluss mit dem Rodelsport. Fritz Nachmann fortan nur noch Gastwirt, unter anderem auf der „Moni-Alm“. 

Die Gastronomie ist für die Nachmanns anno 2025 schon viele Jahre Vergangenheit. Ebenso die Reisen zu den Töchtern nach Südafrika und Spanien. Und seit letztem Jahr schließlich die Kurierfahrten für die Kunden von Tochter Sissis „Markthalle“ am Tegernsee. 

Fritz und Marianne Nachmann mit Klaus Angermann

Fritz und Marianne Nachmann, die letzten noch lebenden Rodel-Pioniere vom Podium der ersten Rodel WM 1955, genießen in ihrem herrlich am Waldrand gelegenen Häuschen im Tegernseeer Tal den Lebensabend. Mit bewundernswerter Vitalität, unzählbaren schönen Erinnerungen, und sie „sind dankbar für jeden Tag, den Gott uns noch schenkt“.

Dankbar ist zum 70. FIL-WM-Geburtstag auch der ehemalige Sportreporter. Der Rodelsport und die Bekanntschaft mit seinen Protagonisten waren für ihn über Jahrzehnte ein Geschenk.

Gastbeitrag von Klaus Angermann

Bilder Klaus Angermann, Privatfotos und Archiv Bert Isatitsch "100 Jahre FIL"